An der Generalversammlung von Enfants du Monde vom 20. Juni 2024 übergab Laurent Guye, der Enfants du Monde seit 2014 geführt hat, sein Amt an Robert Thomson. Der neue Präsident ist Wissenschaftsspezialist und war während 40 Jahren als Gesundheitsberater von Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Schweiz (DEZA) tätig.
Wir freuen uns sehr, heute ihren Rückblick wie auch den Ausblick mit Ihnen zu teilen.
Starkes Wachstum in den letzten 10 Jahren
Laurent, Sie sagen scherzhaft, dass Ihre Begegnung mit den Machthabern Zentralasiens Ihre Meinung geformt hat, dass es gefährlich ist, zu lange in seinem Amt zu bleiben. Auch deshalb haben Sie sich nach 10 Jahren als Präsident des Komitees von Enfants du Monde entschieden, die Verantwortung abzugeben.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung unserer NGO in diesem Jahrzehnt?
Enfants du Monde hat seine Position markant ausgebaut und das Budget von CHF 7,6 Mio. im Jahr 2014 auf CHF 13,6 Mio. im Jahr 2023 erhöht. Die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde im gleichen Zeitraum von 15 auf 21 Vollzeitstellen erhöht. Diese Zahlen spiegeln jedoch nur einen Bruchteil der Bemühungen der Organisation wider, sich an ein sich stark veränderndes Umfeld anzupassen.
In vielen Einsatzländern hat sich die Sicherheitssituation verschlechtert, was zu einem explosionsartigen Anstieg der Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen geführt hat. Um diesen von Unsicherheit und Gewalt betroffenen Menschen weiterhin zu helfen, hat Enfants du Monde seine Arbeitsmethoden angepasst und stützt sich immer stärker auf die lokale Expertise in diesen Ländern.
Enfants du Monde hat auch auf den Wandel in der Politik reagiert, wonach Grossspender*innen – wie die DEZA – den Beitrag an die einzelnen Organisationen gekürzt haben, um dafür eine grössere Anzahl berücksichtigen zu können. Die Partnerschaft mit SolidarMed ermöglichte es uns ausserdem, eine mittelgrosse Organisation zu gründen und Fachwissen zu bündeln.
Gleichzeitig zeigen die Erfolge von Enfants du Monde bei grösseren Wettbewerbsausschreibungen, die sich überdies zu einer wichtigen Finanzierungsquelle entwickelt haben, dass unsere Expertise in Bildungsfragen auch über die Landesgrenzen hinaus anerkannt ist.
Was wünschen Sie dem neuen Präsidenten, Robert Thomson?
Robert übernimmt die Leitung von Enfants du Monde in einer Zeit, in der sich vieles sehr schnell verändert. Umso wichtiger ist die strategische Führung des Komitees und der Überblick über die Gesamtorganisation. Mit seiner Erfahrung und seinem Engagement für Kinder ist er bestens für diese Aufgabe gerüstet.
Anpassung an ein sich stark veränderndes Umfeld
Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf Enfants du Monde zukommen?
Um eine nachhaltige Wirkung sicherzustellen, hat Enfants du Monde stets mit Institutionen wie den Bildungs- und Gesundheitsministerien der Einsatzländer zusammengearbeitet, um so auch deren Politik und Umsetzung zu fördern und zu stärken. Dennoch gibt es viele Herausforderungen:
Wie können wir in fragilen Staaten, die von internen Krisen und Konflikten erschüttert sind, Wirkung erzielen?
Wie können wir Kooperationen entwickeln, in denen die Wünsche der Einsatzländer im Mittelpunkt stehen und die Synergie zwischen lokalem Fachwissen und den Beiträgen der Teams von Enfants du Monde gefördert wird?
Wie können wir flexibel und anpassungsfähig genug sein, um Ausschreibungen zu gewinnen, ohne vom Kompetenzbereich von Enfants du Monde – dem Know-how und der Einsatzerfahrung unserer Teams – abzuweichen?
Ich bin zuversichtlich, dass Enfants du Monde mit seiner Entwicklung in den letzten zehn Jahren, der Arbeit, welche die Einsatzteams leisten, und seiner Führung gute Lösungen für diese Herausforderungen finden wird.
Mit den Schwächsten zusammen Lösungen finden
Robert, Sie sind soeben zum Präsidenten von Enfants du Monde gewählt worden. Sie kommen nicht um eine Vorstellung herum!
Als gebürtiger Brite und Berner, der viele Jahre im Genferseebecken gearbeitet hat, habe ich verschiedene Religionen, Sprachen und Kulturen kennengelernt, was mich zu einem aufgeschlossenen, offenen und toleranten Menschen gemacht hat. Ich teile ausserdem die Werte der Pfadfinder, denen ich als Neunjähriger beigetreten bin.
In den vergangenen 40 Jahren habe ich als wissenschaftlicher Fach- und Gesundheitsberater in Institutionen wie dem Weltpfadfinderbüro, der Weltgesundheitsorganisation, dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria Erfahrungen gesammelt. Wenn ich auf eines stolz sein kann, dann darauf, dass ich versucht habe, die so genannten schutzbedürftigen Menschen in die Entscheidungsfindung und die Umsetzung der Programme, für die ich verantwortlich war, einzubeziehen.
Jetzt bin ich pensioniert und dankbar, dass ich meine Zeit zwischen dem Meer in Tunesien, den Berner Alpen und der Genfer Landschaft verbringen kann. Trotzdem bin ich weiterhin Mitglied des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH), einer Miliz von Expert*innen, die im Krisenfall zur Verfügung stehen. So beispielsweise 2023, als Menschen beim Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze alles verloren haben. Das SKH konnte eine Strategie vorstellen, mit der Kinderhochzeiten verhindert werden, die durch die Mitgift der Töchter immer noch Einkommensquellen darstellen.
Der Gesellschaft zurückgeben, was ich selbst erhalten habe
Was sind Ihre Beweggründe für die Übernahme des Vorsitzes der NGO?
Als Babyboomer habe ich von den grossen Investitionen profitiert, die in den 50er-Jahren in Europa in Bildung und Gesundheitswesen getätigt wurden. Für mich ist es einerseits wichtig, der Gesellschaft zurückzugeben, was ich selbst erhalten habe, und andererseits dafür zu sorgen, dass künftige Generationen die gleichen Chancen erhalten.
In meiner Motivation, meinem Handeln generell lasse ich mich von persönlichen Überzeugungen und Werten leiten, insbesondere jenen der Pfadfinder. Die Übernahme des Vorsitzes von Enfants du Monde ist für mich eine Möglichkeit, diese Werte zu leben und einen aktiven Beitrag zur Bildung und Gesundheit von Kindern weltweit zu leisten.
Die grössten Herausforderungen für Enfants du Monde
Ihr Engagement für den Schutz von Kindern zeigt sich in Ihrer gesamten beruflichen Laufbahn. Hat sich Ihrer Meinung nach seit der Genfer Erklärung von 1924 wirklich viel getan, oder würden Sie sagen, dass es noch sehr viel zu tun gibt?
Die Genfer Erklärung von 1924 war für den Schutz der Kinder von grundlegender Bedeutung und hat zur Gründung von Organisationen geführt, die auch heute noch aktiv sind. Aber auch wenn es Fortschritte gegeben hat, bleibt noch sehr viel zu tun. Das Hauptziel ist, dass alle Nationen ihre Verantwortung für Kinder selbstverständlich und umfassend wahrnehmen, indem sie Bildung und öffentliche Gesundheit in ihre Gesetze und vor allem in ihre Budgets aufnehmen und sie der Aufrüstung vorziehen.
Welches sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen für Enfants du Monde in den kommenden Jahren?
Eine der grössten Herausforderungen besteht darin, Bildung und Gesundheit selbst während schwierigen Zeiten und Konflikten sicherzustellen. Dies erfordert einen dreiteiligen Ansatz – den NEXUS –, der Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe und Friedenskonsolidierung miteinander verbindet. Leider befinden wir uns heute in einer Situation, in der die öffentlichen Mittel zurückgehen. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, die verfügbaren Ressourcen zu rationalisieren und die Wirkung jedes Beitrags zu maximieren, um die Bildung und die Gesundheit der Kinder zu fördern, insbesondere in solchen Notsituationen.
Eine weitere essenzielle Herausforderung besteht darin, uns vor Augen zu halten, dass Jugendliche gemäss dem Völkerrecht bis zum Alter von 18 Jahren Kinder sind. Es ist unglaublich wichtig, sich auch ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit bewusst zu sein. Sie benötigen eine umfassende Sexualerziehung, bei der den verschiedenen Traditionen und Kulturen ebenso Rechnung getragen werden muss. Denn nur so ist es möglich, ihnen die wissenschaftlichen Grundlagen näherzubringen. Unser Ziel ist es, Leben zu retten, indem wir beispielsweise verhindern, dass 17-jährige Mädchen aufgrund wiederholter Teenagerschwangerschaften an Blutverlust sterben, oder aber auch, indem wir 15-Jährige vor HIV-Infektionen schützen. Diese Themen sind sensibel – sowohl vor Ort bei unseren Partnern als auch bei unseren Gönner*innen. Wir dürfen die Erwartungen in uns nicht enttäuschen und müssen einen korrekten und ausgewogenen Ansatz finden, um den Schutz der Kinder zu gewährleisten.
Was ist Ihrer Ansicht nach der richtige Ansatz?
Ich bin pragmatisch und idealistisch. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass sich die Geschäftsleitung und die Teams von Enfants du Monde mehr und mehr von ihrem Vorstand unterstützt fühlen. Gemeinsam müssen wir sicherstellen, dass unsere Programme wirklich Einfluss auf die Entwicklung und den Frieden in unsicheren Situationen haben und so nachhaltige und positive Ergebnisse für heutige und künftige Generationen garantieren.